Zwischen Oktober 2019 und April 2021 hat bei der Emsländischen Landschaft im südwestlichen Niedersachsen nach dem Projekt Grenzkultur (KhN-Blogbeiträge dazu: Nr. 1, Nr. 2) nun Bi mi to Huus – lebendige Tradition an Ems und Vechte stattgefunden. Das Konzept zum regionalen Kulturerbe erhielt als eines von rund 260 modellhaften Projekten im ländlichen Raum Förderung aus dem Topf LandKULTUR im Bundesprogramm für Ländliche Entwicklung (BULE) des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Im Nachklang wird analysiert, in wieweit die Konzepte auf andere Regionen übertragen werden können.
Ein Großteil des Geldes für Bi mi to Huus floss in meine begleitende Vollzeitstelle für das Projektmanagement und insgesamt zehn an Heimat- und Museumsvereine im Emsland und in der Grafschaft Bentheim zu vergebene Teilaufträge. Sie erhielten jeweils 2.000 € Unterstützung für die Umsetzung ihrer Ideen, deren Dokumentation und für die dazugehörige Öffentlichkeitsarbeit. Hauptziel war es, Themen des Immateriellen Kulturerbes in der Region sichtbar zu machen und ein Interesse für Traditionen, Brauchtum und altes Handwerk zu wecken. Generationsübergreifend und mit viel möglicher Publikumspartizipation sollten die Vereine ihre Veranstaltungen planen. Zusätzliches Ziel auch eine Verstetigung der jeweiligen Vereinsarbeit, um mit der einmaligen Finanzierung aus LandKULTUR möglichst weitere Vorhaben anzuregen.
Vorlauf
Das erste Halbjahr von Bi mi to Huus galt den Vorarbeiten: Ein Projektlogo wurde ebenso entwickelt wie das Grundgerüst einer Website, die im Verlauf des nächsten Jahres zu einer Art virtuellem Museum des regionalen kulturellen Erbes anwachsen sollte.
Ich lud Heimat-, Brauchtums- und kleine Museumsvereine auf die Region verteilt zu vier Informationsveranstaltungen ein und informierte über das Vorhaben. Als Projektmanagerin bot ich darüber hinaus den teilweise unerfahrenen Vereinen Hilfestellung beim Schreiben der Anträge oder leistete eingehende Beratung über die Realisierbarkeit von Ideen. Da die Vereine nach dem Bottom Up-Prinzip selbst Themen und Konzepte einbringen durften, blieb es bis zuletzt spannend, was die Interessenten einreichen. Die Vorauswahl aus den rund 20 eingereichten stimmigen Konzepten trafen die Emsländische Landschaft und die Projektpartner Emsländischer Heimatbund, Heimatverein Grafschaft Bentheim und Emslandmuseum Lingen gemeinsam. Der Projektträger in Berlin gab bestätigend die Mittel frei.
Hauptphase
Als Mitte März 2020 die zehn beauftragten Vereine mit der Arbeit starten konnten, wurden sie sofort wieder ausgebremst von der Tatsache, dass gleich nach der Zusage der erste Lockdown in Deutschland begann. Dies sorgte für große Verunsicherung auf allen Seiten: Wie sollte nun gearbeitet werden?
Können alle Pläne auch nur annähernd antragsgemäß überhaupt umgesetzt werden?
Wird es sich zum Vor- oder Nachteil entwickeln, dass viele Teilaufträge erst in der zweiten Jahreshälfte umgesetzt werden?
Die gewohnten Vorstandssitzungen fielen weg, Vereine starteten Telefon- und E-Mailketten für grobe Absprachen. Videokonferenzen waren Neuland und oftmals mangelte es an der passenden Ausstattung oder dem nötigen Wissen.
Dem Verbot für größere Veranstaltungen fiel beispielsweise gleich zu Beginn ein Konzept rund um örtliche Traditionen zum Maibaumaufstellen und den 1. Mai zum Opfer. Die Absage der weiteren Teilnahme aus Aschendorf geriet zum Vorteil eines vorher abgesagten Konzepts eines Heimatvereins aus der direkten Umgebung. Dies sicherte zusätzlich die gewünschte gute Verteilung von Aufträgen über das gesamte Gebiet der Emsländischen Landschaft.
Auch wenn mehrere Vereine nur sehr zögerlich zu Werke gehen konnten oder gar zeitweise komplett aussetzten, waren die meisten der zwangsweise gezogenen Handbremse trotzend mit Motivation dabei. Im Mai 2020 schloss der örtliche Heimatverein den ersten Teilauftrag zur Wallfahrtsgeschichte in Wietmarschen erfolgreich ab. Als hätte man die besonderen Umstände im Vorfeld bereits geahnt, handelte es sich um eine Schaufensterausstellung, bei der die Besucher den gesamten Ortskern begehen. Geltende Abstandsregeln, Registrierungspflichten oder begrenzte Personenzahlen in Innenräumen spielten somit keine Rolle. Statt Öffnungszeiten bildet das Tageslicht die zeitliche Begrenzung. Dass die Eröffnung nur in ganz kleinem Kreis stattfinden durfte und nicht – wie ursprünglich erhofft – von vielen Besuchern am Tag vor der jährlichen Wallfahrt mit wahrgenommen wurde, war ein Dämpfer. Nach 2020 wird nun auch die Jubiläumswallfahrt 2021 in ihrer bekannten Form ausfallen müssen. Die Ausstellung ist bis zum Herbst weiter verfügbar!
Nach Ende des ersten Lockdowns galt es, sukzessive viele Vorhaben der Vereine im Sinne der Vorgaben aus LandKULTUR umzudenken. Eine der wichtigsten Leitfragen hierbei: Wie kann etwas auch nur annähernd „öffentlichkeitswirksam“ werden, wenn eine Veranstaltung mit Besuchern nicht stattfinden kann? Bei den Antworten auf diese oder auch andere Probleme zeigte sich der Projektträger offen und prüfte gut begründete Änderungsvorschläge wohlwollend. Gelder, die z.B. für Werbemittel für coronabedingt abzusagende Veranstaltungen geplant waren, konnten in Ausstattung zugunsten der Vereinsarbeit oder für Publikationen investiert werden. Geplante Kosten für nicht mögliche Workshops konnten ebenfalls sinnvoll anderweitige Nutzung erfahren. Ein Auftrag aus Hoogstede-Arkel brach trotz allem vollends weg, da ihm durch Corona die Grundlage entzogen war. Die 2.000 € wurden auf zwei andere Grafschafter Vereine aufgeteilt.
Umgesetzt wurden neun Aufträge mit sehr unterschiedlichen Ausrichtungen. Neben dem Wallfahrts- und Marienbildthema aus Wietmarschen gab es beispielsweise zwei Aufträge zu Sagen. In der Grafschaft Bentheim war es ein Digitalisierungsprojekt, das zehn Sagen an ihren „Spielorten“ hörbar macht. In Herbrum auf dem nordwestlichen Hümmling geht es um die Aulken, sagenumwobene Zwergengestalten, zu denen Material gesammelt und künstlerische Umsetzung gestartet wurde für eine Publikation.
In Brandlecht/Hestrup hatte man sich vier Workshoptage in der Winterzeit vorgenommen, von denen nur der zum Korbflechten kurz vor dem „Lockdown Light“ in verkleinerter Form stattfand. Ersatzweise wurden aber andere Wege beschritten. Ein extra entstandener Erklärfilm zeigt die Herstellung der sogenannten Schoosollen („Schuhsohlen“), flachen Neujahrskuchen, die über dem offenen Feuer gebacken werden. Der Verein besitzt dafür nun ein eigenes Eisen im traditionellen Stil. Es wurden Middewinterhörner angeschafft, um mögliche neue Mitglieder der Bläsergruppe mit Leihinstrumenten ausstatten zu können.
Gleich zwei Aufträge aus Bi mi to Huus hatten landwirtschaftliche Themen zum Inhalt und zeigten, wie vor rund 60 Jahren Getreide bzw. Kartoffeln angebaut wurden: wenige Maschinen, viel körperliche Arbeit und keine Pestizide. In Lathen bezog man die Windmühle und das Backhaus mit ins Projekt ein. Ein Film hierzu entstand und zeigt alle Abläufe rund um den Acker an der Mühle. Auch in Lingen-Darme drehte man parallel zum Kartoffelprojekt einen Film, der zusätzlich auch alle Arbeitsgruppen des Vereins mit vorstellt. Damit ist der Film auch ein bleibendes Dokument der Lebendigkeit des Vereinslebens.
Auch wenn in Messingen die Dorfkirmes als wichtiger Punkt für alle Generationen im jährlichen Veranstaltungskalender ausfallen musste, wurde die Ausstellung zur Geschichte der örtlichen Kirmes im Heimathaus in verkleinerter Form umgesetzt. Zeitgleich wurde damit das Gebäude nach einem Umbau neu eingeweiht.
Der Heimatverein Holthausen-Biene erstellte unter anderem einen Film, in dem die Weitergabe des Wissens rund um die Herstellung von Holzschuhen in der komplett erhaltenen Werkstatt von einer Generation zur nächsten dokumentiert ist.
Einen besonderen Weg im Bereich Immaterielles Kulturerbe beschritt das Erdöl-Erdgas-Museum in Twist. Hier warf man den Blick auf den rasanten gesellschaftlichen Wandel, den der einst landwirtschaftlich geprägte Ort seit dem Beginn der Erdölförderung 1949/50 durchlief.
Projektende
Neben einer Abschlussbroschüre als Projektdokumentation über die Ergebnisse der Vereine entstand ein Handbuch zu Kulturerbethemen mit sechs informativen Artikeln. Jeweils zwei Exemplare des Handbuchs verschickte ich kostenlos an die Heimat- und Brauchtumsvereine sowie an die ehrenamtlich geführten Museen der Region. Es ist inzwischen auch als Download verfügbar.
Geplante Workshops mit den teilnehmenden und weiteren interessierten Vereinen mussten coronabedingt ausfallen, ein abschließendes Reflexionstreffen wurde online abgehalten. Wären durch die besonderen Umstände nicht viele ursprünglich geplante Veranstaltungen und Programmteile unmöglich geworden, hätte eine breitere Außenwirkung von Bi mi to Huus erzielt und die Wahrnehmung der einzelnen Aufträge größer sein können. Auch die Website hätte dann mit weitaus umfassenderem Material bestückt werden können. Trotz allem wurde inhaltlich mehr umgesetzt als zwischenzeitlich überhaupt erwartet werden konnte.
Wie die Auswertungen zum Gesamtprojekt LandKULTUR aussehen werden, das noch eine Weile laufen wird, bleibt abzuwarten.
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